Ein Rückblick

Ein Rückblick: Ausgangssperren 1945 und heute

„Das Gleiche ist nicht dasselbe“, sagt der Historiker Alfons Kleiner zu den Corona-bedingten Ausgangssperren und erinnert sich an die Verhältnisse im Tannheimer Tal vor 75 Jahren.

In seinen 90 Lebensjahren hat Alfons Kleiner eine Menge gesehen und erlebt. Kurioses und Ungewöhnliches, Spektakuläres und Bewegendes. Regelmäßige Besucher seiner Kirchenführungen in den Gotteshäusern des Tannheimer Tals kennen ihn daher auch als Geschichtenerzähler mit Tiefgang, großem Wissen und weitem Horizont. Jetzt aber, mit der Ausgangssperre, die derzeit in Tirol gilt, widerfährt auch ihm etwas Neues. Der Chronist des Hochtals, den manche respektvoll als das lebende Geschichtsbuch des Tannheimer Tals bezeichnen – er erlebt auf seine alten Tage einen Zustand, wie er so noch nicht dagewesen ist.

Alfons Kleiner - Autor Tannheimer Tal Buch

Ausgangssperre einst „weniger dramatisch“

Obwohl: Damals, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945 und 1946 hatte das Land schon mal unter einer solch zwangsweise eingeschränkten Bewegungsfreiheit zu leiden. Doch „das kommt mir in der Rückschau weniger dramatisch vor als heute – und das war es wohl auch“, berichtet der Pädagoge und Historiker, damals ein Teenager. „Das hat vor allem damit zu tun, dass die Menschen damals allgemein weniger mobil waren.“ Dass einer seinen eigenen Ort verließ, war schon selten; geschweige denn, dass es auch noch aus dem Tal hinaus nach Reutte oder ins Allgäu gegangen wäre. „Wir blieben, wo wir zuhause waren.“

Abends wurde zugesperrt und das Licht gelöscht

Das war nichts Außergewöhnliches im Tannheimer Tal in diesen Jahren. Die Region war zu jener Zeit zwar schon von Bergfreunden und Sommerfrischlern als Reiseziel entdeckt worden. Doch die waren in Kriegszeiten ferngeblieben und so dominierte in den 1940er Jahren weiterhin das anstrengende Leben von Bergbauern in einem eher armen Landstrich. Da erledigte sich die Ausgangssperre sozusagen von selbst: „Man hat abends die Haustür zugesperrt und das Licht gelöscht und das war’s dann auch“, schildert Kleiner lakonisch die Verhältnisse einst.

Tannheim

Abendliches Ausgehen war kein Thema im Tannheimer Tal

Als Jugendliche seien die Mädchen und Jungen „sowieso zuhause geblieben, da gab es keinen Gedanken ans Ausgehen oder ähnliche Freizeitvergnügen“, erinnert sich der 90-Jährige. Auch hätten seine Eltern die Ausgangssperre weniger als Einschränkung, denn als Schutzmaßnahme verstanden. Vor allem auf seine Schwestern hätten sie ein waches Auge gehabt, denn nicht jeder Angehörige der Besatzungstruppen sei ein Gentleman und Kavalier gewesen. Einmal habe es eine recht grobe nächtliche Durchsuchung des Hofes gegeben, der sich „meine Mutter sehr resolut entgegengestellt hat“. Danach seien die Mädchen dann umgezogen – ins „Widum“, wie man in Tirol den Pfarrhof nennt. Der Respekt vor der Kirche, so erzählt Kleiner, sei wohl als besserer Schutz betrachtet worden.

Feste und Bräuche blieben erhalten

Die einfachen Verhältnisse des Lebens in den Bergen erlaubten aber auch während der Besatzungszeit den einen oder anderen Ausbruch aus dem Alltag. „Die traditionellen Feste und Bräuche waren nicht eingeschränkt“, blättert Kleiner in seinen Erinnerungen. „Die Prozessionen haben stattgefunden und feierliche Anlässe wurden öffentlich gefeiert und begangen.“ Für die Besatzungstruppen seien im Tannheimer Tal sogar immer wieder mal Tiroler Abende in Gasthöfen über die Bühne gegangen, an denen die Einheimischen aktiv beteiligt waren. Die Erinnerungen an Einzelheiten seien inzwischen verblasst, räumt der Geschichtenerzähler Kleiner ein, aber die Fröhlichkeit solcher Augenblicke schwinge noch immer ein bisschen nach.

Damals keine Angst vor Krankheiten

Anders als heute, so macht der betagte Chronist deutlich, habe sich damals keiner vor Krankheiten gefürchtet. „Wir hatten gerade den Krieg durchstanden, da konnte es nicht mehr schlimmer werden. Wir waren eher erleichtert, die größten Gefahren hinter uns zu haben“, bringt er es auf den Punkt. „Diese Erfahrung fehlt den meisten Menschen heute zum Glück.“ Weshalb auch die Ausgangssperren einst und jetzt nicht miteinander vergleichbar seien. „Die Ursachen sind anders – und die Zeiten auch.“

 

Bilder: Chronik 100 Jahre Tourismus im Tannheimer Tal, Ulrich Pfaffenberger/vmm digital, privat